AFGHANISCHE FLüCHTLINGE: WARUM FLüCHTLINGE ZURüCK NACH AFGHANISTAN REISEN

Vor Kurzem kam Saras Mutter bei einem Verkehrsunfall in Afghanistan ums Leben. „Ich wollte bei der Beerdigung dabei sein, deshalb bin ich hingeflogen“, sagt die 26 Jahre alte Afghanin. Sara floh 2014 mit ihren Schwestern und ihrem Vater nach Deutschland. Ihr Vater war Großhändler in Herat, der zweitgrößten Stadt des Landes. „Eine bewaffnete Gruppe hatte meinen dreijährigen Bruder entführt und ermordet“, sagt Sara. Ihre Familie sei in Gefahr gewesen und habe sich gezwungen gesehen, das Land zu verlassen. Nur die Mutter, traumatisiert vom Tod ihres Sohnes, sei geblieben.

Der 38 Jahre alte Ali ist 2014 ebenfalls aus Afghanistan nach Deutschland geflohen. Auch er reiste unlängst zurück. „Ich hatte meine Familie seit acht Jahren nicht mehr gesehen“, sagt er. „Der Wunsch, meine schwer kranken Eltern noch einmal zu sehen, war sehr groß.“

Reisen aus „sittlichen Gründen“ sind unproblematisch

Wenn Flüchtlinge in ihr Heimatland reisen, ohne einen „sittlichen Grund“ – wie eine Beerdigung oder einen Besuch von schwer kranken Verwandten –, riskieren sie ihren Schutzstatus. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) kann dann ein Widerrufsverfahren einleiten. In den Fällen von Sara und Ali, die eigentlich anders heißen, wäre ein „sittlicher Grund“ gegeben. Offen darüber sprechen wollen sie trotzdem nicht. Zu groß sei die Unsicherheit, ob sie ihren Aufenthaltsstatus nicht doch gefährden würden.

Denn darüber, ob Heimatreisen von Flüchtlingen vertretbar sind oder sie dadurch ihren Schutz in Deutschland verwirken, wurde in den vergangenen Wochen viel diskutiert. Losgetreten hatte die Debatte ein Beitrag des Fernsehsenders RTL. Mitte August berichtete ein Journalistenteam über Reisebüros in Hamburg, die ihren Kunden helfen sollen, Reisen nach Afghanistan vor dem deutschen Staat zu verheimlichen, indem sie Double-Entry-Visa für Iran vorbereiten und ausdrucken.

Mit dem Visum kann man innerhalb eines bestimmten Zeitraums zweimal nach Iran einreisen. Die Zettel, so der Bericht, würden an der iranisch-afghanischen Grenze anstatt des blauen Passes für Flüchtlinge gestempelt, mit dem Reisen in das Heimatland nicht möglich sind. Bei der Rückkehr nach Deutschland könne man das Papier dann wegwerfen. Illegal ist diese Praxis nicht, und selbst wenn ein „sittlicher Grund“ vorliegt, ist sie eine von wenigen Methoden, mit denen afghanische Flüchtlinge überhaupt in ihr Heimatland reisen können.

Den Behörden ist ein weiterer Weg bekannt. „Oftmals ist es so, dass die Menschen mit zwei Pässen reisen“, heißt es aus Kreisen der Bundespolizei am Frankfurter Flughafen. Mit dem blauen Pass flögen sie zum Beispiel zuerst nach Istanbul oder Doha, ehe es mit Reisedokumenten aus der Botschaft ihres Heimatlandes weitergehe. „Von diesen Passdokumenten weiß die Bundespolizei, die Ausländerbehörde oder das BAMF natürlich nichts.“ Dem Bundesinnenministerium zufolge geben knapp fünfzig Prozent der Asylbewerber an, keinen Pass ihres Herkunftslandes zu besitzen.

„Ich würde es niemandem empfehlen“

Auch im Frankfurter Bahnhofsviertel gibt es afghanische Reisebüros, die Reisen nach Afghanistan anbieten. Viele Flüchtlinge reisten über Iran ein, sagt der Mitarbeiter eines Büros. An der Grenze bitte man die Taliban, den blauen Pass für Flüchtlinge nicht zu stempeln. Am meisten sei im Juni und Juli los gewesen, doch die Nachfrage habe stark nachgelassen wegen „der Situation in Deutschland“. Die Asyldebatte? Der Mann nickt.

In einem anderen Reisebüro deutet ein Mitarbeiter auf die drei Buchstaben „AFG“, die Abkürzung für Afghanistan, in seinem blauen Reisepass für Flüchtlinge: „Mit dem blauen Pass dürfen wir nicht nach Afghanistan reisen. Das steht hier.“ Und über Iran? Ja, es gebe Afghanen, die nach Iran flögen. Was die dann da machten, sei deren Sache. „Aber wenn sie einen Stempel von den Taliban im Pass haben, ist der weg.“

Eine Straße weiter kann man ebenfalls Reisen nach Afghanistan buchen. Und Double-Entry-Visa für Iran beantragen. „Was die Menschen dann damit machen, liegt nicht in unserer Verantwortung“, sagt der Mitarbeiter dieses Reisebüros. In den meisten Fällen stempelten die Grenzer das Papier statt des Passes. Eine Garantie dafür gebe es aber nicht. „Ich würde es niemandem empfehlen, zu riskieren, mit den Mullahs im afghanischen Grenzgebiet zu verhandeln.“

Eigentlich sei das Visum für Geschäftsleute gedacht, um unkompliziert zwischen Terminen beispielsweise in der Türkei wieder nach Iran einreisen zu können. In seinem Reisebüro habe die Nachfrage ebenfalls nachgelassen, sagt der Mitarbeiter: „Es gab vor einem Monat einen Fernsehbericht, seitdem fliegen fast nur noch Afghanen mit afghanischem Pass, aber nicht mehr mit dem blauen.“

Kein Land für einen Urlaub

Aus der Politik wurden Stimmen laut, die solche Reisen hart sanktionieren wollen. „Wer in sein Heimatland reisen kann, um dort Urlaub zu machen oder Verwandte zu besuchen, der hat nun sicher auch keinen Grund mehr, in Deutschland ein Asylverfahren weiter zu betreiben“, sagte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz. Joachim Stamp von der FDP, der Sonderbevollmächtigte der Bundesregierung für Migrationsabkommen, zeigte sich in der „Bild“-Zeitung „stinksauer“. Die Behörden müssten sicherstellen, dass Menschen, die in Deutschland Schutz beantragt hätten, „aber im Heimatland Urlaub machen“, Deutschland verlassen müssten. Aber handelt es sich überhaupt um Urlaube?

„Für viele Familien ist eine Rückkehr in die Heimat kein Vergnügen, sondern eine schmerzhafte Notwendigkeit“, sagt die grüne Bundestagsabgeordnete Schahina Gambir. Die Politikerin ist 1991 in Kabul geboren und seit ihrer Flucht nie wieder nach Afghanistan zurückgekehrt. Die Sicherheitslage habe das für sie persönlich nicht zugelassen. Reisen zur Familienzusammenführung oder Klärung von Verwaltungsangelegenheiten als „vergnügliche Freizeitaktivität auf Kosten des deutschen Sozialstaates zu verklären“, hält sie für so falsch wie zynisch.

Auch der Jurist Constantin Hruschka, Fachmann für Asylrecht, hält den Begriff „Urlaub“ in der Debatte für irreführend. „Das ist aus meiner Sicht die falsche Formulierung“, sagt der Professor für Sozialrecht an der Evangelischen Hochschule Freiburg. „Ein Land wie Afghanistan als Urlaubsland zu wählen ist nicht sehr plausibel.“ Die humanitäre Lage sei „dermaßen schlecht“ und die Situation unter dem Regime der Taliban immer noch gefährlich.

Gerade für Frauen sind Reisen nach Afghanistan eine Zumutung. Sie müssen sich verschleiern, die Taliban „empfehlen“ eine Burka. Sara reiste über Teheran ein. Sie durfte den Flughafen in Herat nicht ohne männliche Begleitung verlassen. „Ich musste warten, bis mein Onkel mich abholte und ein Dokument unterzeichnete, das besagte, dass ich zukünftig nicht mehr allein reisen werde“, sagt sie. Von den Taliban habe sie sich bedroht gefühlt. „Um nicht aufzufallen, habe ich einen großen Schal und einen langen Mantel getragen.“

Schutzsuchende müssen die Reise nicht melden

Nur weil jemand kurzzeitig nach Afghanistan reise, heiße das im Umkehrschluss nicht, dass er dort sicher leben könne, sagt Hruschka. Aber: „Wenn jemand dort monatelang hingeht, muss man natürlich darüber sprechen, ob er seinen Schutzstatus verliert.“ Die rechtliche Frage sei, ob sich eine Person mit einer Heimatreise dem Schutz des Heimatstaates wieder unterstelle.

Die Beweislast, eine solche Schutzunterstellung nachzuweisen, liegt beim BAMF. Doch selbst wenn ein Schutz durch den Heimatstaat vorliegt, muss der Status in Deutschland nicht erlöschen. „Viele Flüchtlinge werden ja nicht staatlich verfolgt, sondern sind aus anderen Gründen geflohen“, sagt Simone Rapp, Anwältin für Asylrecht. Beispielsweise Frauen, denen eine Zwangshochzeit droht.

Eine Pflicht für Schutzsuchende, eine Reise in das Herkunftsland anzugeben, gibt es nicht. Auch eine Genehmigung kann das BAMF nicht erteilen, da es keine gesetzliche Grundlage gibt. Ob eine Heimatreise eines anerkannten Flüchtlings zu einem Widerrufsverfahren führt, kann das BAMF erst bei der Wiedereinreise prüfen und nur, wenn es überhaupt Kenntnis über eine solche Reise erlangt.

Dafür ist es auf Meldungen anderer Behörden wie der Ausländerbehörde oder der Bundespolizei angewiesen. Doch die haben Probleme, solche Reisen nachzuweisen. Bei der Bundespolizei am Frankfurter Flughafen ist zu hören: „Bei der Wiedereinreise sagen sie dann beispielsweise, ich habe Urlaub in Istanbul gemacht. Es gibt auch Ehrliche, aber der Ehrliche ist in dem Fall der Dumme.“ Wenn es Anhaltspunkte für eine Heimatreise gebe, informiere man das BAMF. Doch ein Flug nach Iran etwa bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein Schutzsuchender auch nach Afghanistan gereist ist. Mehr als vier Millionen Afghanen leben nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks in Iran. Verwandte kann man auch dort besuchen.

„Das ist mit der Genfer Flüchtlingskonvention nicht vereinbar“

Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat auf die Debatte reagiert. Das Sicherheitspaket, das die Sozialdemokratin unlängst vorgelegt hat, enthält auch schärfere Regeln für Heimatreisen von Flüchtlingen. So sollen Schutzsuchende in Zukunft verpflichtet werden, solche Reisen bei der zuständigen Ausländerbehörde anzuzeigen. Außerdem soll künftig die Vermutung greifen, dass der reisende Flüchtling sich abermals freiwillig dem Schutz seines Heimatstaates unterstellt hat, wenn keine „sittlich zwingenden“ Gründe vorliegen. Kann er die Vermutung nicht widerlegen, soll dies zum Widerruf des Schutzes führen.

Anwältin Rapp hält die vorgeschlagene Gesetzesänderung für unzulässig. „Das ist mit der Genfer Flüchtlingskonvention und den europarechtlichen Vorgaben nicht vereinbar“, sagt sie. Auch Fachmann Hruschka zweifelt, ob die vorgeschlagene Vermutungsregel geltendem EU-Recht genügt: „Wenn eine Aufenthaltserlaubnis oder ein gewährter Schutzstatus widerrufen werden soll, dann ist im Grunde die Behörde beweispflichtig, dass die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.“

Wie viele der mehr als 300.000 in Deutschland Schutz suchenden Afghanen schon in ihre Heimat gereist sind, ist unklar. Auch erhebt das BAMF keine Zahlen, wie viele Widerrufsverfahren wegen solcher Reisen geführt werden. Eine Umfrage von Simone Rapp unter 19 anderen Anwälten, die sich auf Asylrecht spezialisiert haben, ergab, dass 14 davon überhaupt keinen Fall betreuten, in dem ein Schutz suchender Afghane in seine Heimat reiste. Die übrigen fünf berichteten ausnahmslos von Fällen, in denen „zwingende“ Reisegründe vorgelegen hätten. Auch Hruschka hält die Zahlen für überschaubar.

Sara arbeitet Vollzeit im Gesundheitssektor

Ali und Sara planen keine weiteren Besuche in Afghanistan. „Ich würde jedem Afghanen von einer Heimatreise abraten“, sagt Ali. Er fühlte sich während seines Aufenthalts in der Hauptstadt Kabul durchgehend unsicher. Weil er als Journalist gearbeitet hat, fürchtet er eine Verfolgung durch die Taliban. „In der ganzen Stadt werden Personen kontrolliert. Ich hatte Angst, dass mich jemand erkennt.“ Um nicht aufzufallen habe er sich einen Bart wachsen lassen und nur traditionelle Kleidung getragen.

Ali würde umgehend nach Kabul zurückziehen, wenn sich die Sicherheitslage dort änderte, sagt er. Er hat eine Tochter. Für sie sei Afghanistan zu gefährlich. Sara glaubt, Afghanistan werde in absehbarer Zeit nicht so sicher sein, dass sie wieder dort leben könne. Sie möchte in Deutschland bleiben. „Ich habe mir ein neues Leben aufgebaut und viele Freunde gefunden.“ Die Afghanin hat eine Ausbildung gemacht und arbeitet Vollzeit im Gesundheitssektor.

Sara kann zwar verstehen, dass über Heimatreisen von Schutzsuchenden diskutiert wird, sagt aber: „Derzeit wird der Eindruck erweckt, als würden alle afghanischen Flüchtlinge jährlich Urlaub in Afghanistan machen.“ Dabei nähmen nur sehr wenige eine so anstrengende Reise in Kauf. Zudem sei es sehr teuer, in die Heimat zu gelangen. Sie selbst habe knapp 4000 Euro bezahlt. Wer nicht in Deutschland arbeite, könne sich das wohl kaum leisten.

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