DER KULTURZUG BERLIN–BRESLAU STARTET IN DIE NEUE SAISON

Auf den ersten Blick ist alles ganz normal. Drei Dieseltriebwagen sind in den Bahnhof Lichtenberg eingefahren. In der Morgensonne leuchten sie hellrot, das ist die Farbe von DB Regio. Doch wer einsteigt, der merkt: Der Zug, der da auf grünes Licht wartet, ist etwas Besonderes, nach Lage der Dinge sogar weltweit Einzigartiges.

Zwar sah es im vergangenen Jahr so aus, als käme er nicht mehr wieder. Doch er hat überlebt, und nun erleben er und seine Fahrgäste die neunte Saison. Er könnte sogar einen Kollegen bekommen. Willkommen im Kulturzug / Pociąg do Kultury nach Breslau / Wrocław!

„Feinde, Fremde, Freunde“. Rolf Nikel, einst Botschafter in Warschau, hat eines der Bücher über Deutschland und Polen geschrieben, die in Wagen 1 bereitliegen. Man kann auch Reiseführer und Belletristik lesen. „Das ist unsere Bibliothek“, erklärt Oliver Spatz, der künstlerische Leiter des Kulturzugs. „Und hier sind die Spiele.“ Laut Fahrplan dauert die Tour nach Breslau vier Stunden und 15 Minuten, und sie findet auf ziemlich harten Nahverkehrspolstern statt. Da wird Zeitvertreib benötigt.

Ein Quiz wird es auch geben, Aufkleber mit Wörtern laden zum Sprachenlernen ein. Auf den Kopfstützen liest man etwas über berühmte Schlesier. Im Mehrzweckabteil machen sich Dejan Jovanovic mit Sohn Gregor sowie Neffe Dragan mit ihren Akkordeons und der Trommel bereit. Sie werden später, hinter Königs Wusterhausen, in die Tasten greifen, als ersten Teil des Programms, das wie üblich auch eine Lesung umfasst.

Die Sounddatei, in der die Staatskapelle Berlin den Fahrgästen mit dem schmissigen Breslau-Liegnitzer Eisenbahngalopp einheizen wird, ist ebenfalls ready to go. Benjamin Bilse, aus dessen Kapelle die heutigen Berliner Philharmoniker hervorgingen, komponierte ihn 1844 zur Eröffnung der Strecke. Welcher Zug hat schon eine Hymne? Und welcher Hauptbahnhof sieht wie ein Tudorschloss aus? Der Breslauer tut es.

Geschichte(n) im Gepäck: Das ist in diesem Jahr das Motto. Die Reise im Kulturzug ist beides zugleich: einerseits ein touristischer Ausflug in schöne Landschaften und zu historischen Städten, die im Falle Breslaus, der 650.000-Einwohner-Stadt an der Oder, zugleich sehr modern wirken. Aber auch eine Exkursion in eine Region mit teils düsterer Geschichte, in der die Deutschen den Zweiten Weltkrieg begannen, der am Ende dazu führte, dass dieses Volk viele Gebiete im Osten verlassen musste. Wie auch der Kulturzug einen Mehrfachcharakter hat: als Zeitmaschine auf Rädern und als Verkehrsmittel.

Das Signal an Gleis 21 springt auf Grün. Der Interregio-Express IRE 5837 beginnt seine mehr als 350 Kilometer lange Fahrt. Dass es diesmal nicht zwei, sondern drei Triebwagen sind, liegt auch daran, dass sich eine 28-köpfige Gruppe angemeldet hat. Als Cornelius Herzberg aus Berlin jüngst seinen 70. Geburtstag feierte, kam das größte Geschenk von ihm, dem Jubilar. „Ich habe uns eine Reise nach Breslau geschenkt“, erzählt er. Ein Wochenende inklusive Übernachtung, Stadtführung und Abendessen in der Altstadt mit Verwandten und Freunden. Die weiteste Anreise hatten die Zürcher.

Der Ingenieur für Elektrotechnik hat lange in Polen gelebt, vor allem in Danzig. Seine Ehefrau ist Polin. „Meine Kinder sind bilingual aufgewachsen, sie sprechen beide Sprachen.“ Was unterscheidet die Länder? „Ich habe den Eindruck, dass sich Polen schneller und dynamischer entwickelt als Deutschland“, meint der Ingenieur. Auch heute noch ist er beruflich häufig im Nachbarland: „Ich habe ein differenziertes Bild von dem Land.“ Andere Deutsche nicht – so könnte der Subtext lauten.

Ein kurzer Halt im Bahnhof Ostkreuz, dann geht es mit rund hundert Fahrgäste auf der Görlitzer Bahn Richtung Südosten. Zum ersten Mal hatte sich der Kulturzug am 30. April 2016 auf die knapp 350 Kilometer lange Reise gemacht. „Er war von Anfang an ein Erfolg“, sagt Oliver Spatz. Während der ersten Saison war der Andrang manchmal so groß, dass der Zug überfüllt war und Reisende nicht mitkamen. Es zeigte sich, wieviele Berliner sich für kuratierte Ausflüge nach Polen interessierten.

Die neue Verbindung war aus einem Mangel geboren. Ende 2014 hatten die DB und die polnische Staatsbahn PKP den einzigen durchgehenden Zug zwischen Berlin und Breslau eingestellt, wegen Fahrgastmangels. Die Leerstelle machte sich immer drängender bemerkbar, als 2016 näherrückte. „Das Jahr, in dem Breslau Kulturhauptstadt Europas werden sollte“, wie sich Oliver Spatz erinnert. Plötzlich war sie da, die Idee für einen Kulturzug, sagt der aus Hamburg stammende Theaterwissenschaftler, der schon lange in der Grenzregion tätig ist. „Ein Zug erschien uns als ideal, um ein möglichst großes Publikum zu erreichen“ – und die Schwelle zu senken, die Nachbarn kennenzulernen.

Inzwischen hat die Zahl der Reisenden eine wichtige Marke erreicht. „Seit der Einführung hat der Kulturzug knapp 100.000 Fahrgäste befördert“, berichtet Joachim Radünz, Sprecher des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg (VBB). Das erste Jahr war mit 22.000 Reisenden das erfolgreichste. Es zeigte sich, wie viele Berliner das Bedürfnis haben, das Nachbarland kuratiert kennenzulernen. Doch 2021 erreichte die Fahrgastzahl mit zirka 4000 einen Tiefpunkt. In der Coronapandemie war die Grenze zeitweise geschlossen, Polen als Hochrisikogebiet eingestuft. Als Russland 2022 den Krieg in der Ukraine begann, beförderten die Triebwagen Ukrainer von Polen nach Deutschland. Sie gehören zu den wenigen Fahrzeugen, die für beide Länder eine Zulassung besitzen.

Im vergangenen Jahr, als der Zug erst Mitte Juni startete und trotzdem bei 112 Fahrten insgesamt rund 10.000 Reisende dabei waren, stand das mehrfach ausgezeichnete Angebot auf der Kippe. Er sei Fernverkehr, die Länder seien nur für den Nahverkehr zuständig, hieß es in der Verkehrsverwaltung.

Doch SPD-Politiker setzten in der Koalition durch, dass der Zug weiter fahren kann. Allerdings liegen die Gesamtkosten in diesem Jahr deutlich über den bisherigen 700.000 Euro.  Berlin und Brandenburg überweisen DB Regio für die Verkehrsleistung jeweils 459.000 Euro. Für die Instandhaltung und die Beklebung der Triebwagen der Baureihe 646 fallen je Bundesland 539.000 Euro an. Für die Kultur kommt in diesem Jahr Brandenburg auf: mit 182.000 Euro für Lesungen, Konzerte, Kurse. Natürlich steuern auch die Fahrgäste Geld bei: Die Hin-und-Rückfahrt Berlin–Breslau kostet 49,80 Euro. Spatz rät: „unbedingt Plätze reservieren“. Bei 70 der rund 220 Sitze ist das möglich.

„Die Kunstszene in Berlin und Schlesien hat diesen Zug schon lange für sich entdeckt“, sagt er. Während von der Kulturförderung bisher rund tausend Künstler und Musiker beiderseits der Grenze profitierten, ist die Finanzierung eine deutsche Angelegenheit. „Die polnische Seite beteiligt sich nicht daran“, sagt Britta Elm, Sprecherin der Verkehrsverwaltung. Ausnahme: Die Stadt Breslau erlaubt die kostenlose Nutzung ihres Nahverkehrs. Auch was die Muttersprache der Reisenden angeht, ist der Kulturzug vor allem deutsch – zu 75 Prozent. 90 Prozent wohnen in Berlin oder Brandenburg.

Es ist eine Asymmetrie, die auffällt. Doch in Polen ist nicht nur die Finanzierung des Regionalverkehrs anders organisiert als hierzulande. Auch bei der Kultur liegt der Schwerpunkt auf der Nationalregierung – die Deutschland bis vor kurzem ablehnend gegenüberstand. „Wir wollen unseren Ansprechpartnern auf Augenhöhe begegnen“, so formuliert es Oliver Spatz. Nach dem Regierungswechsel in Warschau seien die Dinge in Bewegung geraten: „Davon, dass sich Polen beteiligt, sind wir nicht mehr weit entfernt.“ Zugleich werde der Wunsch, auch die Asymmetrie im Fahrplan zu beheben, größer. Wäre es nicht schön, wenn sonnabends in Breslau ebenfalls ein Kulturzug starten würde?

Eine andere Idee wird bereits konkret, berichtet Corinna Scheller von Kulturprojekte Berlin. Als Ergänzung soll es auch in Eurocity-Zügen zwischen Warschau und Berlin ein Programm geben. „Wir sprechen mit PKP Intercity darüber, einen Wagen anzuhängen“, sagt sie. Für jede Tour berechne der Betreiber Geld. Doch Scheller und ihr Team hoffen, dass im August 2024 mindestens drei Fahrten hin und zurück möglich sind.

Kleiner Zug, große Worte: „Der Kulturzug hat zur deutsch-polnischen Verständigung beigetragen“, sagt Karl Forster, Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft. Der Zug ist aber auch das: ein Mittel, bequem neue Gegenden im Nachbarland zu entdecken.  Er hält auch in der Keramikstadt Bolesławiec (Bunzlau) und in Legnica (Liegnitz).

Wie geht es weiter? „Derzeit ist die gemeinsame Finanzierung durch die Länder nur für 2024 gesichert, da sich Brandenburg momentan im Aufstellungsprozess für den Doppelhaushalt für die Jahre 2025 und 2026 befindet“, sagt Britta Elm. Außerdem wird im Nachbarbundesland im September ein neuer Landtag gewählt. Obwohl die AfD in den Prognosen verloren hat, könnte sie als stärkte Partei aus der Wahl hervorgehen.

Auf dem anderen Gleis hält eine Lok mit Doppelstockwagen. Sie beflügeln Oliver Spatz’ Fantasie.  „Das wäre was: oben ein Jazz-Club, unten eine Bar“, sagt er begeistert. Auch wenn die Zukunft ungewiss ist: Es sieht so aus, als gäbe es noch jede Menge Ideen für den Kulturzug von Berlin nach Breslau.

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