WIE EIN DDR-ALPINIST MIT DER SZ AUF DEN HöCHSTEN BERG DER WELT WOLLTE

Bergsteiger Lutz Protze hatte zum Mount Everest eine besondere Verbindung. Jedes Jahr feierte er die Erstbesteigung des höchsten Berges der Erde. Sein Traum vom Gipfel erfüllte sich jedoch nicht.

Dresden. Die erste Begegnung war überraschend, eindrucksvoll. Und sie sollte Konsequenzen haben. Anfang 1992 klopfte Lutz Protze wortwörtlich bei der Sächsischen Zeitung in der Sportredaktion an. „Guten Tag. Ich will auf den Mount Everest“, sagte da ein stattlicher, athletischer Mann. Sein Gesicht wettergegerbt, gebräunt, das Lächeln selbstbewusst, offen. Die ungewöhnliche Frage kam unverstellt, geradlinig: „Wollt ihr mich dabei unterstützen?“

Die Sponsoring-Bitte erfolgte aus dem Nichts und überraschte alle. Sie kam allerdings zu einer Zeit, als plötzlich alles denkbar – und vor allem machbar erschien. Die offenen Grenzen hatten eine Aufbruchstimmung nach der Wende ausgelöst, wo sich Menschen wirklich auf den Weg machten. Plötzlich wandelten sich Träume in realisierbare Projekte.

In den Bergen kannte sich Protze bestens aus. Als Elfjähriger hatte der gebürtige Bad Schandauer seinen ersten Gipfel gemeistert, den Vorderen Torstein. Aber noch besser als im Elbsandstein kam er in sauerstoffarmer Höhenluft zurecht. Als Mitglied der DDR-Alpinistik-Nationalmannschaft hatte er die Berge erklommen – im Pamir, Altai, Tienschan. Die Expeditionen zu den höchsten Gipfeln der Sowjetunion führten in Höhen jenseits der 7.000 Meter. Die Welt seiner alpinen Grenzgänge hatte eine klare Grenze: Es gab keine Westreisen für die DDR-Alpinisten, selbst nicht für die Besten.

Verständnis für den DDR-Sportchef

Erklärung vom damaligen DDR-Sportchef Manfred Ewald: Das kann sich die DDR nicht leisten. „Bergsteigen gehörte ja zu den Sportarten, die nicht gefördert wurden, die keine olympischen Medaillen gewinnen konnten. Wenn er uns die Tür aufgemacht hätte, dann wären Wasser- und Basketballer gekommen, Hockeyspieler und Moderne Fünfkämpfer, Tennisspieler und Faustballer“, sagte Protze und meinte: „Die litten ja alle so wie wir Bergsteiger. Ewalds Argumente konnte ich fast verstehen. Aber das half uns nicht weiter. Wir wollten trotzdem zu den Achttausendern.“

So ausführlich kamen im ersten Gespräch bei der Sächsischen Zeitung die Probleme nicht zur Sprache. Es war ein kurzer Plausch mit dem Überraschungsgast über was, wann und wie er sich denn so eine Unterstützung beim Mount-Everest-Projekt vorstellen könnte. Dann öffneten sich auch schon die Türen zur Chefredakteurin.

Edith Gierth, eine kleine, zierliche Frau mit großer Verantwortung, blickte zu Protze auf, der mit seiner imposanten Erscheinung den Raum für die wichtigen Entscheidungen zu dominieren schien. Da zog ein Hauch von weiter Welt in das Chefzimmer ein. „Warum sollten wir das tun?“, fragte die Chefin ehrlich überrascht. „Höher geht es nicht“, sagte Protze mit strahlenden Augen. Ein entwaffnendes Argument. Sein Optimismus überzeugte, sein Projekt erhielt die erhoffte Unterstützung. Er war der erste Anfrager. Spätere Bitten hatten es viel schwerer und bekamen auch Absagen.

Was Protze mit dem Everest verband

Was Protze bei der ersten Begegnung im Dresdner Haus der Presse nicht verraten hatte: Der Mount Everest besaß für ihn eine ganz persönliche Note. Die Erstbesteigung von Edmund Hillary und Tenzing Norgay, dieser 29. Mai 1953, war ein besonderes Datum. Genau am elften Geburtstag von Protze standen zum ersten Mal Menschen auf dem Mount Everest. „Ich habe damals schon mitbekommen, dass da etwas ganz Besonderes passiert war“, sagte Protze, der in der sächsischen Felsenwelt aufwuchs. „Später lud ich meine Kumpels zu Everest-Jubiläums-Feten ein. Nebenbei stießen wir auch auf meinen Geburtstag an. Die Erstbegehung blieb immer ein faszinierendes Datum.“

Den Traum vom Gipfel des Mount Everest konnte sich Protze selbst allerdings nicht erfüllen. Zweimal versuchte er es. Zu seinem 50. Geburtstag hätte es theoretisch gelingen können. Doch Wetterkapriolen verhinderten den letzten entscheidenden Versuch. Beim zweiten Anlauf auf der Hillary-Route schlugen zudem tragische Lawinen-Tode auf die Gemüter. „Ich habe für mich das Kapitel Mount Everest abgeschlossen“, sagte Protze danach. „Ich bekam die Chance zu spät. Aber dass ich es überhaupt noch versuchen konnte, ist mir eine große innere Befriedigung. Es war ein Traum, dort ganz oben auf dem Grat in Richtung Gipfel zu steigen. Manchmal nagt ein Gefühl, ob man es auch im Alter nicht noch mal hätte versuchen können. Doch der Verstand sagt ganz klar: Nein. Nach so vielen Jahren muss man wissen, wenn es genug ist. Rauschebärte jenseits der 60 haben am Everest nichts mehr zu suchen.“

"Etwas Abenteuerliches sollte es in meinem Leben sein"

Nach der Wende hatte Protze den Job als Vermessungsingenieur aufgegeben, machte das Hobby zum Beruf und wagte den Sprung in die Selbstständigkeit. Schon nach seinem Berufsabschluss als Schlosser konnte er sich nie vorstellen, bis zur Rente an der Werkbank zu stehen. „Ich hatte immer den Drang nach Freiheit, nach Luft, nach Neuem“, beschrieb er seine Unrast. „Ein perfekt geregeltes bürgerliches Leben schien mir unmöglich für mich zu sein. Das liegt wohl in den Genen. Wenn ich an der Küste groß geworden wäre, hätte mich das Segeln gereizt. Etwas Abenteuerliches sollte es in meinem Leben sein. Berge boten das im Überfluss.“

Die Erfahrungen, die Protze bei seinen Abenteuern sammelte, hat er nicht für sich behalten. „Ich war immer überzeugt, dass es was ganz Tolles ist, was ich da treibe. Dieses gute Gefühl wollte ich teilen. Reiseleiter in den Bergen ist ideal. Da lässt sich wie nebenbei die Sehnsucht nach Ferne, Weite, Reisen bedienen. Wenn ich jemanden auf den Kilimandscharo führen kann, öffnet sich für den eine neue Welt. 19-mal war ich oben. Auf diesem Gipfel habe ich erlebt, wie viele von Emotionen übermannt wurden. Das riss mich jedes Mal mit. Gefühle am Berg stumpfen nie ab“, erklärte er.

Ähnliche Geschichten können auch die anderen erzählen, die es wie Protze zu den höchsten Bergen zog wie beispielsweise Götz Wiegand, Jörg Stingl, Thomas Türpe, Frank Meutzner, Markus und Christian Walter. Längst ist inzwischen die einstige Achttausender-Sehnsucht gestillt. Damals aber schienen sie in den Aufbruch-Zeiten alle auch eine Art Stellvertreter-Gemeinschaft zu sein für diejenigen, die es sich nicht leisten konnten oder wollten, sich auf ferne Kletterabenteuer mit ungewissem Ausgang einzulassen.

Fast zwei Jahrzehnte mit der SZ

Die sich trauten, denen hörten und sahen viele gern zu, wenn sie von ihren Wagnissen berichteten, den Triumphen und Tragödien unterwegs. So waren die Verabschiedungs- und Willkommens-Partys der sächsischen Achttausender-Expeditionen in den 1990er- und 2000er-Jahren kleine Volksfeste. Und viele, die aufbrachen, gaben später ihre Erfahrungen als Autoren, Fotografen oder Filmer, als Reiseleiter oder Reisebegleiter, als Macher in Reisebüros oder bei Bergfilmfestivals weiter.

Protze und die Sächsische Zeitung, es wurde eine besondere Beziehung. Es blieb nicht bei dem einen Besuch, es wurde eine gut zwei Jahrzehnte andauernde Zusammenarbeit. Mit ihm entwickelte sich die Bergsportseite der SZ. Welche Ausrüstung ist nötig? Wo soll es damit hingehen? Was gab es für Sternstunden? Was leisteten Klettersachsen? Protze machte sich einen Namen mit seinen Kolumnen. Und er gab sein Lebensgefühl weiter.

Protzes Vermächtnis: eine Gemeinschaft von Bergfreunden

„Es sind oft kleine Ratschläge, die einem das Leben erleichtern“, sagte er und erzählte: „Mir halfen die Tipps der Alten, und wie ich von ihnen an die Felsen geführt wurde. Natürlich war ich auch leichtsinnig. Mitunter fehlte Material. Aber mir war immer bewusst, was passiert, wenn ich in kritischen Momenten weitermache. Runterfliegen wollte ich nie. Dann gab es die Wahl: Konzentrieren oder zugeben, dass es nicht weitergeht. Der Ruf nach dem Seil ist peinlich, kostet eine Kiste Bier. Aber ohne diese Einstellung wird man nicht alt beim Bergsteigen. Mir halfen diese Erfahrungen dann beim Höhenbergsteigen.“

Lutz Protze starb 2013 im Alter von 71 Jahren nach langer schwerer Krankheit in seinem Wohnort Lichtenhain. Er hinterließ auch eine Gemeinschaft von Berg- und Naturfreunden, denen er den Weg ebnete in Wunderwelten dieser Erde. Dass es sich auszahlt, mutig zu sein, ungewöhnliche Ziele anzusteuern, ausgetretene Pfade zu verlassen. Sein Traum vom Mount Everest und der Weg zur Sächsischen Zeitung sind das beste Beispiel gewesen.

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