An Gepäckbändern deutscher Flughäfen zeigt sich, wie es um die lange besungene Präzision unseres Landes bestellt ist. Und um den Gemütszustand unserer Mitbürger.
Ein übermüdetes Häuflein Fluggäste wartet mit mir in München auf die Koffer aus Los Angeles. Leere Blicke richten sich auf Schacht 6. Dieser schaut ebenso leer zurück. Seit etwa 45 Minuten. Die Anzeigetafel verkündet - ohne Zeitangabe - eine Verspätung unserer Habseligkeiten. Man will die geschätzten Kunden schließlich nicht im Unklaren lassen.
Nun ist es nicht so, dass das Kofferkarussell ungenutzt wäre. Seit unserer Ankunft drehen unzählige Taschen und Gepäckstücke in Dauerschleife ihre Runden. Sie kommen aus Denver und stammen aus Schacht 5. Er bedient dasselbe Band. Allerdings fehlen die Fluggäste aus Colorado. Irgendetwas scheint sie aufzuhalten.
Der Flughafen München schickt sich offenbar an, der sagenumwobenen Frankfurter Fraport hinsichtlich Effizienzminimierung den Rang abzulaufen. Weitere Minuten verrinnen und die Lethargie der Wartenden beginnt sich zu wandeln.
Die vier klassischen Temperamente treten zu Tage. Phlegmatiker, Choleriker, Sanguiniker und Melancholiker. Dabei gibt es zwei philosophische Grundhaltungen, um dem derzeitigen Zustand deutscher Verkehrsbetriebe zu begegnen.
Als Stoiker lernt man durch Einüben emotionaler Selbstbeherrschung sein Los zu akzeptieren. Ein weithin zu beobachtendes Phänomen. Insbesondere an deutschen Bahnsteigen.
Vereinzelt gibt es aber auch Epikureer, die die materiellen Freuden des Lebens unabhängig von den Begleitumständen genießen. So ebenfalls hier. Ein junger Mann („Scheiß auf die Koffer“) beginnt die Süßigkeiten aus der Duty Free Tüte zu vertilgen und verteilt Schokolade an seine Nachbarn.
Endlich das erlösende Geräusch. Die Koffer sind im Anmarsch. Begleitet von einem „Ahhh“ und „Ohhh“ der Umstehenden. Oder doch nicht? Nun blockieren die herrenlosen Requisiten aus Denver den Auswurf aus Schacht 6.
Die Melancholiker seufzen auf. Ein Choleriker tritt mehrfach gegen die Umrandung des Gepäckbandes. Er will auch keine Schokolade vom Epikureer.
Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis jemand den Geistesblitz hat, einige der Koffer vom Band zu nehmen, um Freiräume zu schaffen. Ich war es nicht. Phlegmatiker eben. Zudem scheinen sich Nachtflüge bei mir synapsenlähmend auszuwirken.
Neben mir stöhnt einer und zitiert den Münchener Großphilosophen Karl Valentin: „Mögen hätte ich schon wollen, aber dürfen habe ich mich nicht getraut.“
Schacht 6 bietet nun Koffer-Tetris - bis doch noch die Fluggäste aus Denver eintreffen. Fröhliches Geschnatter. Ein Amerikaner sagt: „Die Deutschen können zwar weder Flughäfen bauen noch Fluggastbrücken bedienen, aber das Gepäck kommt erstaunlich pünktlich.“
Der Blick unseres Cholerikers spricht (Gepäck)Bände(r).
2024-07-31T07:23:46Z